Die dunkle Seite des Waldes

Der Wald hat viele Gesichter – nicht alle sind freundlich. Ein nächtlicher Selbstversuch zeigt den Wald als Ort der Angst, als Mythos und als Tatort. Eine Begegnung in drei Kapiteln.

Von Aline Horner und Lisa Konstantinidis

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Rauschende Blätter, erdiger Geruch und viel Einsamkeit: Was im Wald bei Tageslicht erholsam und anziehend wirkt, verändert sich in der Nacht. In der Dunkelheit zeigt der Naturraum Wald ein bedrohlicheres Gesicht und lässt Urängste aus vergangenen Zeiten aufkommen. Märchen und Erzählungen von schaurigen, düsteren Wäldern aus der Kindheit oder dem letzten Horrorfilm tun ihr Übriges.

Aline Horner macht den Selbstversuch und geht um Mitternacht in den Wald. Die Ängste, die ihr dabei begegnen, sind keine unbekannten. Ein Psychotherapeut schätzt die Ängste der Reporterin ein. Und dann stellt sich heraus, dass auch Märchen und Krimis nicht unschuldig an ihrer Angst im Wald sind.

Wald als Ort der Furcht

Der Lichtkegel der Taschenlampe reicht nur bis zu den Bäumen am Wegesrand. Es raschelt im nahen Unterholz. Was die Geräusche verursacht, verbirgt sich geschickt. Bei Aline lässt die Angst vor dem kleinen und großen Unbekannten nicht lange auf sich warten. Doch warum haben wir solche Angst in der Dunkelheit? Der Essener Psychotherapeut Christian Lüdke erklärt das Phänomen im Interview:

Herr Lüdke, wie lassen sich die Ängste aus dem nächtlichen Selbstversuch im Wald erklären?

Christian Lüdke: Der Mensch trägt bestimmte Urängste in sich, die sich teilweise durch Geschichten und Märchen, die wir als Kinder gehört haben, verfestigt haben. Der Wald übernimmt darin die Rolle eines Ortes, an dem schlimme Dinge passieren, wo kleine Kinder ausgesetzt und im Ofen verbrannt werden. Gerade die Dunkelheit, das Nicht-Sehen und ungewohnte Geräusche führen dazu, dass in uns ganz alte Urängste aus der Steinzeit wieder an die Oberfläche gespült werden. Dann schalten wir in eine Art Überlebensmodus und versuchen, möglichst schnell aus dem Wald und der Situation herauszukommen.

Haben wir Angst, weil unsere Sinne in der Nacht nicht zu gebrauchen sind?

Lüdke: Wenn wir im Wald sind und es ist dunkel, sind unsere Sinne natürlich eingeschränkt: Ich kann nicht mehr so weit sehen, bin auf das Hören angewiesen oder das Fühlen. Dann kann es sein, dass ich meine Angst in diese Richtung lenke, weil ich nicht alles kontrollieren kann.

Grundsätzlich muss man sagen, dass die Summe aller Ängste bei uns Menschen gleich bleibt. Von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter haben wir immer ein Angstniveau. Was sich aber ändert, ist die Angstrichtung, das heißt die Dinge vor denen wir Angst haben.

Für viele gilt der Wald als Ort der Erholung und der Sehnsucht, gleichzeitig aber auch als schauriger Ort. Wieso?

Lüdke: In überwiegenden Teilen ist der Wald mehr ein Ort der Sehnsucht und der Erholung. Diese Urängste, diese unangenehmen Gefühle, vermischen sich teilweise mit kindlichen Ängsten und Vorurteilen. Man hat vielleicht von schlimmen Dinge gelesen oder gehört, von irgendwelchen Überfällen auf Joggerinnen und Jogger im Wald. Das kann sich in einer konkreten Situation vermischen – wenn wir etwa alleine im Wald unterwegs sind. Davon sollten wir uns aber frei machen, weil der Wald definitiv mehr ein Ort der Kraft und der Erholung ist als ein Angstraum.

Was kann ich konkret gegen diese Angst tun?

Lüdke: Um Angst im Wald in den Griff zu bekommen, sollte ich meine Situation reflektieren und mir klar machen, wo ich gerade bin. In Deutschland gibt es eigentlich keine wilden Tiere, außer vielleicht Wildschweine. Das muss ich mir sachlich vor Augen führen. Auch wenn es dunkel ist, kann nichts passieren. Ich werde nicht sterben, wenn ich durch den Wald gehe.

Das klingt so einfach…

Lüdke: Wenn ich merke, dass ich im Wald massiv unter Stress gerate und sich Angst aufbaut, dann kann ich auf meine Atmung achten, also ruhig und gleichmäßig zu atmen. Und es gibt einen Trick, den Mediziner seit vielen Jahren empfehlen: Wenn ich mit den großen Zehen heftig wackele, werden dadurch motorische Zentren im Gehirn aktiviert, was dazu führt, dass ganz viel Energie, die sonst zum Stress- und Angstaufbau benötigt wird, abgezogen wird. Dann wird es sehr schnell wieder hell und klar im Kopf und ich kann beruhigt weitergehen. 

Beruhigt weitergehen möchte auch Aline. Klappt aber nicht. Stattdessen denkt sie während ihres Spaziergangs durch den nächtlichen Wald zurück an Schauergeschichten und Märchen aus ihrer Kindheit. Doch welchen Einfluss haben solche Erzählungen, Erziehung und wahre geschichtliche Ereignisse eigentlich auf das Verhältnis von Menschen und Wald?

Der Wald als Mythos

„Es waren einmal zwei Kinder, die wurden im Wald ausgesetzt und fanden nicht mehr zurück.“ Erzählungen und Märchen, wie dieses von Hänsel und Gretel, beeinflussen unsere späteren Beziehungen mit dem Wald.

Wenn wir gute Erinnerungen an einen Ort haben, macht er uns keine Angst.

Der Psychotherapeut Christian Lüdke sagt, dass der Wald wie „ein Erinnerungsanker” fungiert. Der Ort weckt Erinnerungen an gute und böse Geschichten aus unserer Kindheit. Das können die Gruselgeschichten vom Lagerfeuer sein, die Märchen über böse Hexen, die im Wald wohnen und Wölfe, die Kinder fressen wollen. Lüdke sagt, dass gerade diese kindlichen Erfahrungen im Wald angesprochen werden und unsere damit verbundenen kindlichen Ängste, die wir einst aufgenommen haben, reaktiviert werden.

Welche Version wurde uns erzählt?

Ob wir im Wald an die bösen Mächte oder die guten Geister glauben, liegt also an der Erziehung, die wir erfahren haben oder die Geschichten, die wir erzählt bekommen oder selbst geguckt haben.

Wenn uns im Kindesalter von guten Waldelfen erzählt wird, dann können auch des Nachts weniger Ängste in uns reifen. Ursula Seghezzi ist vom uma Institut für Naturcoaching und Rituale und Transformation in der Tradition europäischer Mythen und Märchen. Gemeinsam mit ihrem Mann begleitet sie dort Menschen auf ihrem Weg zu einer neuen Beziehung zum Wald. Sie hat die Rituale aus der Vergangenheit, die im Wald stattgefunden haben, erforscht und ist der Meinung, dass viele Geschichten – auch die, die es in Grimms Märchensammlung geschafft haben – umgewandelt wurden, um gezielte Angst zu streuen. „Wenn man etwas nicht will, dann fördert man Angst davor“, sagt sie. Denn auch in den Märchen können wir positive und negative Konnotationen mit dem Wald finden. Mal ist es der Ort, in dem das Böse lebt, wie der Wolf, der das Rotkäppchen fressen will – obwohl der Mensch eigentlich nicht auf dem Speiseplan des Wolfes steht. Und auf der anderen Seite finden Figuren wie Schneewittchen Schutz im Wald.

Nationale Verbundenheit mit dem Wald?

Dabei betont gerade der Geobotaniker Hansjörg Küster von der Universität in Hannover, dass der Wald in Deutschland eine besondere Stellung genießt. Schon den Germanen wird eine besonders innige Beziehung mit dem Wald zugesprochen. Küster spricht von dem Schutz der Wälder, den sich die Germanen im Kampf gegen die Römer und Franzosen zu Nutze gemacht haben. Vielleicht auch aufgrund dieser Historie hat es die Deutschen Jahrzehnte lang stets auch in den Wald zur Erholung gezogen. Doch nachts sind es vor allem die Klischees und Erinnerungen an Erzählungen und Filmen, die diese eigentlich gute Beziehung zum Wald zu Nichte machen.

Wald als Tatort

In einem einsamen Wald einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, mag statistisch gesehen unwahrscheinlicher sein als in einer Großstadt – ausschließen lässt es sich aber nicht. Der Kriminalbiologe Mark Benecke kennt den oft romantisierten Naturraum auch als Tatort. Im Video erzählt er, welche Herausforderungen auf einen Forensiker im Wald warten, was  Waldbewohner an menschlichen Überresten anrichten können und wer ihm, dem „Herr der Maden“, die Arbeit erleichtert.

Rückweg in die Zivilisation: Das Licht der Straßenlaterne blendet die Augen der Nachtwanderer. Vertrauter Asphalt ist unter den Schuhen zu spüren.

Und auch hier könnte an jeder Ecke ein Verbrecher auf dem Weg nach Hause warten – Krimis sind genug gedreht. Doch man ist eben nicht jeden Tag nachts im Wald. Das macht den Weg in den Wald auch bei Nacht zu einer besonderen Erfahrung. Einer persönlichen, weil deine Vergangenheit jederzeit mit dir kommt.