Waldspaziergänge, wilde Wälder und was das alles mit Instagram zu tun hat: Nicht erst seit der Romantik lässt der Mythos Wald uns nicht mehr los. Der Philosoph Christoph Quarch weiß, warum.
Egal ob antiker Mythos oder moderner Social-Media-Account: Der Mensch ist fasziniert vom Wald. Doch in seiner jahrhundertealten Beziehung zu den Bäumen hat sich einiges geändert. Was das und warum das so ist, erklärt Christoph Quarch im Interview. Der Philosoph und Autor beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Wald und führt für ZEIT-Reisen philosophische Waldwanderungen durch.
Herr Quarch, was bedeutet uns Menschen der Wald eigentlich?
Christoph Quarch: Der Wald ist von alters her ein Ort, den der Mensch als eine Art Spiegel nutzt, in dem er etwas von sich selbst erkennen kann. Das ist schon in den großen Mythen so, die sich um den Wald ranken. In der griechischen Antike ebenso wie in den nordischen Mythologien wird der Wald oft als ein Ort der Götter gedeutet, ein heiliger Ort, in den man nicht ohne Scheu eintreten kann. Auch in unseren Märchen erscheint der Wald als eine Art Anderswelt im Gegenüber zur urbanen, zivilisierten Welt. Man könnte auch – um einen Gedanken von Martin Heidegger aufzugreifen – sagen: Der Wald erscheint immer aus der Perspektive der Lichtung. Den zivilisierten Menschen, die sich auf der Lichtung eingerichtet haben, erscheint der Wald als etwas Unheimliches, wonach sie sich einerseits sehnen und was sie andererseits daran erinnert, dass die städtische Welt nicht alles ist.
Wie äußert sich unsere aktuelle Sehnsucht nach dem Wald?
Quarch: Entweder sieht der Mensch heute im Wald eine ökonomisch nutzbar zu machende Ressource. Das macht es die gesamte Holzindustrie, aber die Tourismusindustrie nicht minder. Für sie ist der Wald ebenfalls eine Ressource, die für kommerzielle Zwecke ausgebeutet werden kann. Oder aber man betrachtet den Wald mit den Augen einer ästhetischen Wahrnehmung.
Wie sieht diese ästhetische Wahrnehmung aus?
Quarch: Im Mittelalter wäre niemand auf die Idee gekommen, sich am Wald ästhetisch zu erbauen. Er war ein gefährlicher und unheimlicher Ort, wo man nicht genau wusste, was einem widerfährt. Das haben wir heute nicht mehr. Ab dem 18. Jahrhundert hat sich der Blick auf den Wald geändert. Der Mensch der Stadt nahm ihn nunmehr unter ästhetischen Gesichtspunkten wahr. Das Besondere an der ästhetischen Wahrnehmung ist: Sie hält Distanz und lässt sich vom Wahrgenommenen nicht wirklich berühren. Deshalb spricht uns der Wald heute nicht mehr an. Stattdessen nehmen wir den Wald in Anspruch für etwas, was wir im täglichen Leben nicht bekommen: Natürlichkeit, oder besser noch, Wildnis.
Natürlichkeit und Wildnis – gibt es das in deutschen Wäldern überhaupt noch?
Quarch: In Deutschland gibt es so gut wie gar keine wilden Wälder mehr, die mindestens zweihundert Jahre lang nicht bewirtschaftet worden sind. Vielleicht gibt es so etwas wie Wildnis partiell in Nationalparks, in Truppenübungsgebieten oder auch in Biosphärenreservaten wie hier bei uns in der Rhön, aber das ist selten. Und weil eben auch diese Waldstücke so stark durch die Lichtung, also durch die zivilisierte, urbanisierte Welt kontextualisiert sind, können wir sie als Wildnis eigentlich gar nicht mehr erfahren. Wir erfahren den Wald nur noch aus der Perspektive des zivilen und urbanen Lebens, aber nicht mehr mit den Augen eines Waldbewohners.
Was ist dann im Wald noch anders als in der Stadt?
Quarch: Der Wald ist immer noch ein ursprünglicher Ort, an dem etwas von den ewigen Grundprinzipen des Lebens sichtbar wird, zum Beispiel, dass Leben immer etwas mit „Fressen und Gefressen werden“ und mit „Stirb und Werde“ zu tun hat. Oder dass es dort auf der einen Seite – wie etwa Peter Wohlleben gezeigt hat –, ein hohes Maß an Interaktion und Kooperation zwischen verschiedenen Organismen gibt, auf der anderen Seite aber auch einen Kampf ums Überleben, in dem sich der eine gegen den anderen durchzusetzen hat. Das sind die großen Dynamiken und Regelkreisläufe des natürlichen Lebens, für die wir in einer zunehmend technisierten und nun auch noch digitalisierten Welt überhaupt kein Gespür mehr haben.
Kann man die aktuelle Waldbegeisterung da noch mit dem „Mythos Wald“ des 19. Jahrhunderts erklären?
Quarch: Ich denke, dass sich das heutige Interesse für den Wald durchaus mit der romantischen Verklärung des Waldes als Sehnsuchtsort in Beziehung bringen lässt. Eichendorffs Waldgedichte etwa haben sich im kollektiven Unbewussten festgesetzt und lassen den Wald noch immer als ein Refugium der Seele erscheinen.
Erleben wir heute also „nur“ eine Wiederbelebung der Romantik?
Quarch: Die Dichter der Romantik verstanden ihre Worte als Fortsetzung des Waldes mit anderen Mitteln. Ihre Dichtung sollte nicht nur vom Wald erzählen, sondern eine ursprüngliche Naturerfahrung evozieren. Die rein medial, digital vermittelten Waldbilder von heute können so etwas nicht mehr leisten. Denn das reine Bild ist ohne jede haptische, physische Qualität. Das erlaubt es dem Betrachter, in hohem Maße Distanz aufzubauen: Wir finden diese Bilder dann zwar hübsch und ansehnlich, aber sie gehen uns nicht wirklich etwas an.
Warum ist das so?
Quarch: Wir haben alle gelernt, uns psychisch und emotional gegen die Bilderflut zu imprägnieren, die tagein tagaus über uns hereinbricht, weil sie uns andernfalls wahrscheinlich davonspülen würde. Deshalb ist es für mich auch kein Zufall, dass man zwar von einem wieder aufgeflammten Interesse am Wald redet – aber, wenn ich im Wald rund um Fulda oder in der Rhön, die ja ein ausgewiesenes Wandergebiet ist, abseits der Haupttouristenattrakionen unterwegs bin, treffe ich so gut wie niemanden. In der Corona-Zeit war das ein bisschen anders. Grundsätzlich ist das mediale Waldinteresse aber größer als das reale physische.
Geht es also bei aller sozialmedialen Begeisterung für die Fotos gar nicht um den tatsächlichen schwedischen Waldsee, sondern nur um eine digitale Illusion?
Quarch: Das ist ein ambivalentes Phänomen – wie der Wald eben immer schon ein zwielichtiger und zweideutiger Ort war. Ich glaube, die Sehnsucht ist echt. Viele Menschen – das ist gerade in den Monaten der Corona-Krise deutlich geworden – haben untergründig eine diffuse Sehnsucht danach, mit der lebendigen Welt, in einem stimmigen Verhältnis zu sein. Sie spüren in sich, ohne dass sie sich wirklich dessen bewusst sind, dass ihr Leben flach geworden ist: Man starrt auf flache Monitore und führt flache Konversationen. Die Tiefendimension des Lebens ist verloren gegangen. Diese diffuse Sehnsucht nach Echtheit und Ursprünglichkeit findet im Wald eine Projektionsfläche. Vom Eintauchen in die Natur verspricht man sich zu Recht eine größere Rückbindung an diese Tiefenbindung des Lebens.
Aber wirklich Eintauchen geht am Bildschirm nicht.
Quarch: Wie gesagt: Die Sehnsucht, die sich hier artikuliert, ist authentisch. Nur – und dass ist ein typisches Phänomen der modernen Konsumwelt –, die Angebote, die uns unterbreitet werden, diese Sehnsucht zu stillen, sind letzten Endes flach und verhindern eher die ersehnte Erfahrung als dass sie sie ermöglichen würden. Für unsere konsumgetriebene Wirtschaft ist das typisch, weil sie ihre Produkte – und dazu gehören eben auch Waldfotos – am besten verkauft, wenn sie ein Bedürfnis danach generiert, ohne es je ganz zu befriedigen. So auch im Blick auf den Wald: Das authentische Bedürfnis des modernen Menschen nach einer Rückbindung an das natürliche Leben, wird durch digitale Vermittlung immer nur partiell befriedigt und auf diese Weise am Köcheln gehalten. Aber am Ende gibt sie ihm nicht das, was er wirklich braucht, nämlich das Eintauchen in das echte, raue, wilde, lebendige Leben.