#forest, #nature und #outdoors – unter diesen und ähnlichen Hashtags finden sich auf Instagram Millionen Fotos und es werden täglich mehr. Natur und Wald trenden in den sozialen Medien. Ist die Sehnsucht echt oder gewinnt der Wald die Herzen der Follower nur auf Instagram?
Von Michelle Olion und Cornelius Stiegemann
Es ist die perfekte Idylle: Die Strahlen der tiefstehenden Sonne scheinen zwischen den beiden rotgestrichenen Holzhäusern hindurch und tauchen die Wiese in goldenes Licht. Über dem Heidekraut schwebt, an unsichtbaren Fäden, der Schriftzug „friday evening walk“.
Das ist eins der Fotos, die Michelle Clever auf ihrem Instagram-Account „daughter_of_the_woods“ als Instagram-Story veröffentlicht hat. Die 26-Jährige ist vor einem Jahr nach Schweden ausgewandert und hat sich ganz der Naturfotografie verschrieben. Sie fängt die schwedische Natur für die über 80.000 Follower ein. Alle paar Tage gibt es neue Stories und Posts, kurze Videos und Fotos. Darin setzt sie Bäume, Wiesen, den See, an dem sie wohnt und sich selbst immer wieder in Szene. Tausenden von Menschen gefällt das.
Was den Städtern fehlt
Auch der Instagram-Forst wächst täglich. Der Hashtag #nature steht derzeit auf Platz vier der deutschen Instagram-Trends, unter #forest findet man über 40 Millionen Beiträge, unter #outdoors sogar über 55 Millionen. NaturfotografInnen wie Michelle füllen die Feeds von Millionen Followern auf der ganzen Welt. Und es begeistern sich immer mehr Menschen für Fotos der wilden Natur.
Für den Philosophen und Autor Christoph Quarch ist das nichts Neues. Der Wald sei seit alters her eine Gegenwelt zur Stadt. Seit der Mensch den Wald verlassen oder ihn gerodet hat, um sich auf den Lichtungen häuslich einzurichten, ist der Wald Symbol für das, was ihm fehlt, sagt Quarch, der für ZEIT-Reisen philosophische Waldwanderungen durchführt. Hierzulande war es vor allem die Naturbegeisterung der Romantiker, die den Wald als Sehnsuchtsort fest im kollektiven Unbewussten verankerte. Und das wirke noch immer nach, ist Quarch überzeugt – auch auf Instagram.
Ihre besondere Beziehung zum Wald hat Michelle schon zu Schulzeiten aufgebaut. Sie sei Außenseiterin gewesen, die Natur dann ihr Zufluchtsort. „Dadurch, dass ich im Ruhrgebiet großgeworden bin, wo die Natur quasi fehlt – jedenfalls die Natur, die ich mir wünsche und von der ich gerne umgeben sein möchte – stand für mich ziemlich schnell fest, dass ich auswandern will.“ Dadurch, dass sie im Internet Accounts folgt, die hauptsächlich Natur-Content aus Schweden posten, entflammt ihr Herz für den europäischen Norden. Nach dem Studium macht sie ihren Traum war: Sie wandert nach Schweden aus.
Der Neubeginn in Skandinavien gestaltet sich aber alles andere als einfach. „Meine Anfangszeit hier war wirklich schwierig“, sagt sie. Doch am zweiten Tag nach ihrer Ankunft in Südschweden geht sie in den Wald hinter dem Campingplatz, auf dem sie in den ersten Wochen leben und arbeiten wird. Und hier, zwischen schwedischen Büschen und schwedischen Bäumen, fühlt sie sich das erste Mal ein kleines bisschen angekommen. Es dauert aber noch eine Weile und einen Umzug in die nördliche Provinz Härjedalen, bis Michelle sagen wird, sie sei angekommen – in Schweden und in der geliebten Natur.
Doch Wald ist nicht gleich Wald: Ein Häuschen im Schwarzwald oder der sächsischen Schweiz wäre für Michelle nicht in Frage gekommen. Die Wälder in ihrem Heimatland haben für sie schlicht nicht die gleiche Qualität wie die nordischen, weil es in Deutschland keine wirkliche Wildnis mehr gibt. „Du weißt einfach, dass innerhalb der nächsten zehn Kilometer die nächste Stadt ist. Oder du hörst das Autorauschen. Hier in Schweden ist es so, dass du aus einer Stadt oder einem kleinen Dorf rausfährst und dann wirklich einfach im Nirgendwo bist. Wenn du da mit dem Auto liegenbleibst, dauert es eine Weile, bis dich da jemand findet.“ In den schwedischen Wäldern kann sie den städtischen, urbanen Kontext vollkommen hinter sich lassen. Der Wald erscheint ihr wilder, natürlicher und authentischer. Hier fühlt sie sich wohl. „Pure Freiheit“, sagt sie.
Es ist kein Wunder, dass Michelle einen Großteil ihrer Zeit in den Wäldern verbringt. Meistens gehe sie dort spazieren oder joggen, je nachdem, wie es sich ergibt und worauf sie Lust habe, erzählt sie. „Manchmal bleibe ich auch einfach irgendwo sitzen und starre auf etwas Schönes.“ Beim bloßen Schauen und Staunen bleibt es nicht. Mit Kamera, Stativ und Selbstauslöser fängt sie den Moment ein. Aus einem Waldspaziergang kann dann schnell ein einstündiges Fotoshooting werden.
Michelles Fotografie und ihre Social-Media-Aktivitäten sind aber nicht nur Hobby: In ihren Instagram-Account, ihren Online-Shop, ihren Blog und ihren YouTube-Kanal fließt zwar viel Zeit und Kreativität, viel Geld verdiene sie damit aber nicht, sagt sie. Auch die Spenden-Plattform Patreon sei keine nennenswerte Einnahmequelle. In letzter Zeit sind die gesponserten Instagram-Posts weniger geworden und auch Kooperationen und Werbung tauchen nur selten auf ihrem Kanal auf. Das hat für sie einen Grund, erklärt Michelle: „Ich glaube, dass gerade der Natur-Content nicht so viel Fläche dafür bietet.“ Auf keinen Fall möchte sie „Influencerin“ genannt werden. Um sich ihr Leben in Schweden finanzieren zu können, arbeitet sie in verschiedenen kleineren Jobs, sie ist zum Beispiel Servicekraft für die lokalen Ferienhäuser und pflegt die Internetauftritte der Dörfer der Region. Für die Zukunft wünscht sie sich, zumindest teilweise von ihren kreativen Projekten leben zu können.
Während Michelle wirklich am Waldsee sitzt und das kühle Wasser an ihren Füßen spürt, sitzen ihre Follower im Großstadtwohnzimmer auf dem Sofa und scrollen sich am Smartphonebildschirm durch die schwedische Natur – der Kontrast könnte kaum größer sein. Trotzdem regnet es Herzen für ihre Bilder. Ihre Follower sind begeistert, das zeigen auch die Rückmeldungen unter ihren Posts. „Ich bekomme oft Nachrichten von Menschen, die mir folgen, in denen sie schreiben, dass meine Fotos und Geschichten sie aus ihrem Alltag holen, sie an Orte bringen, zu denen sie selbst keinen Zugang haben“, berichtet Michelle. Andere beschreiben ihren Content als etwas, das „wie aus einer anderen Welt“ aussieht.
Eine „Anderswelt“ ist da auch für den Philosophen Quarch das Stichwort. Der Wald erscheint dem heutigen Menschen als das raue, rohe, echte, lebendige, natürliche, – authentische – Gegenbild zu einer immer flacher und glatter werdenden digitalisierten Stadtwelt. Viele Menschen „spüren in sich, ohne dass sie sich wirklich dessen bewusst sind, dass ihr Leben flach geworden ist“, sagt er. Tagtäglich starre man auf „flache Monitore und führt flache Konversationen“. Die Tiefendimension des Lebens sei völlig verloren gegangen. Und diese Tiefe, diese Rauheit suche man im Wald – oder nur in seinem Abbild. Denn paradoxerweise gehen die meisten Menschen nicht selbst hinaus in die Natur, sondern greifen in der auf sie einstürzenden Bilderflut des Alltags zum Smartphone und schauen sich Naturfotos auf Instagram an.
Das aktuelle Interesse am Wald sei ein ambivalentes Phänomen, sagt Quarch. Für ihn stehe fest: Die Sehnsucht ist echt. Doch ihre Befriedigung laufe nach den Mechanismen der konsumgetriebenen Wirtschaft ab: Die digitalen Angebote, „die uns unterbreitet werden, diese Sehnsucht zu stillen, sind letzten Endes flach und verhindern eher die ersehnte Erfahrung als dass sie sie ermöglichen würden“. Ein Produkt – und die Waldfotos sind in dieser Hinsicht nichts anderes – verkaufe sich am besten, wenn man ein Bedürfnis danach generiere, dass man nie ganz befriedige. Das Foto vom Spaziergang durch den schwedischen Birkenhain, soll nicht dazu führen, dass man selbst in die Natur geht – sondern dazu, dass man sich auf Instagram nur noch mehr Fotos von skandinavischen Wäldern ansieht.
Flucht aus dem Alltag – am Handy oder in echt
Michelles Follower geben sich also einer Illusion hin. Doch auch wenn ihre Bilder die Sehnsucht der Menschen nicht stillen könne, glaube sie, „dass diese Vorstellung, in der man sich verliert oder sich ein bisschen wegträumt, schon auch eine andere Realität ist.“ Unter denen, die ihren Bildern folgen, seien viele Menschen, die vielleicht einen ähnlichen Traum hegen, wie sie ihn hatte. „Die wollen vielleicht nicht unbedingt auswandern, aber sie lieben es, sich da rein zu flüchten und sich das anzugucken. Sie leben das durch die Fotos ein bisschen aus und entfliehen ihrem Alltag.“
Für diese Menschen macht Michelle ihre Bilder. Denn auch ihr geht es ähnlich, erzählt sie. „Wenn ich Bilder von irgendetwas anschaue, das ich selbst so nicht erleben kann, gibt es mir trotzdem etwas.“ Durch InstagrammerInnen wie Michelle kann jeder seinen eigenen kleinen Wald auf dem Smartphone besuchen, sich für ein paar Momente wegträumen. Aber klar ist auch, dass die digitalen Bäume ihr selbst damals nicht gereicht haben. Sonst säße sie jetzt nicht in ihrem Holzhäuschen, nur durch eine Tür von der Wildnis Schwedens getrennt.